Eine Hirnoperation ist immer Millimeterarbeit. Manche Eingriffe gelten als fast unmöglich, weil sie Regionen betreffen, die für wichtige Funktionen zuständig sind. Ein sogenannter wachchirurgischer Eingriff kann das Risiko einer Verletzung solch empfindlicher Hirnareale minimieren. Die Patientin oder der Patient erlebt die OP bei vollem Bewusstsein, sodass die Neurochirurgen während des Eingriffs testen können, ob etwa das Sprachzentrum oder das motorische Zentrum beeinträchtigt werden.
Eine solche außergewöhnliche Wach-OP erlebte jetzt Harald Buchholz (Name geändert) im Klinikum Dortmund. Im Kopf des sportlichen und muskulösen 58-jährigen Piloten und Kampfsportlehrers war ein walnussgroßer Tumor entdeckt worden. Er lag in der rechten Hirnhälfte zwischen der Sprachregion und dem motorischen Zentrum. Ein Eingriff im Wachzustand bot die einzige Chance, unumkehrbaren Schäden bei der Entfernung des Tumors zu vermeiden.
Millimeterarbeit am offenen Gehirn
Gut ein halbes Dutzend Mal im Jahr führen Prof. Dr. Oliver Müller, Klinikdirektor der Neurochirurgie am Klinikum Dortmund, und sein Team solche Eingriffe durch. Die Tumorentfernung am geöffneten Schädel verlangt den Ärzten ein Maximum an Konzentration ab. Neben der präzisen Arbeit am Gehirn muss der Patient ruhig gehalten und zum Mitmachen bewegt werden.
Dafür sind im Operationssaal im Klinikzentrum Nord an diesem Morgen alle sehr fokussiert. Routiniert bereitet Neurochirurg Dr. Konstantinos Lintas das Operationsfeld vor. Harald Buchholz schläft gut zugedeckt auf dem Operationstisch, bis die Hirnoberfläche freigelegt worden ist. Jeder im OP-Team weiß, was er zu tun hat, jeder Handgriff sitzt. Ein Behälter mit Eiswasser steht bereit, falls es zu einem Krampfanfall kommt, was bei Hirn-Operationen nicht selten ist. Ein eiskalter Guss beendet dann einen solchen Anfall sofort, das Gehirn wird sozusagen resettet.
Bei Harald Buchholz ist das glücklicherweise nicht erforderlich. Er wird behutsam aus der Narkose aufgeweckt und durch das OP-Team sehr einfühlsam beruhigt. „Sie sind im OP, Herr Buchholz“, erklärt Prof. Müller. „Wissen Sie noch, was wir besprochen haben? Es ist alles in Ordnung, bleiben Sie ganz ruhig liegen.“
Rechenaufgaben im OP
Als der benommene Patient unruhig wird und sich zu wehren beginnt, greift eine OP-Kraft seine Hand und beruhigt ihn einfühlsam. Eine lokale Betäubung sorgt dafür, dass er keine Schmerzen verspürt. Der Patient lässt geschehen, dass der Tubus aus seinem Hals entfernt wird und beginnt, die kleinen Aufgaben zu lösen, die ihm eine speziell geschulte Mitarbeiterin der Neurochirurgischen Klinik stellt. Er muss Bilder beschreiben, kleine Rechenaufgaben lösen und alle möglichen Fragen beantworten. „Wie heißt der Bundespräsident? Welche Torte essen Sie am liebsten? Wo soll Ihre nächste Reise hingehen?“ Die Mitarbeitenden achten auf jede Veränderung bei Sprachtempo, Wortfindung, Grammatik. Zusätzlich muss der Patient immer wieder Bewegungsaufgaben durchführen, wie die Finger bewegen, die Hand der Mitarbeiter drücken oder den Arm und das Bein heben.
Während Harald Buchholz 8+8+8 addiert und von seinen Katzen und seinen Urlauben erzählt, arbeitet sich Prof. Müller in seinem Hirn Millimeter für Millimeter zum Tumor vor. Er setzt kleine elektrische Impulse, während der Patient spricht und kann so live testen, an welchen Stellen ein unschädliches Vordringen möglich ist. Mittels winziger Markierungen kartografiert der Neurochirurg das Gehirn, um einen solchen Korridor auszumachen.
Tumorgewebe hellrot leuchtend erkennbar
Von all dem spürt Harald Buchholz nichts. Die schmerzempfindlichen Bereiche des Schädels sind betäubt, das Hirn selbst ist unempfindlich. Schließlich wird das zuvor mit Kontrastmittel markierte Tumorgewebe auf dem großen 3D-Bildschirm als hellrot leuchtendes Gewebe erkennbar. In vielen kleinen Arbeitsschritten wird das bösartige Gewebe entnommen, Zurückbleibendes mit Ultraschallsauger abgetragen.
Das alles ist nervenaufreibende Schwerstarbeit für den Patienten. Immer wieder fragt er, wann er endlich wieder schlafen kann. „Sie machen das großartig. Es läuft alles wie geplant“, sagt Prof. Müller dann. „Wir kommen gut voran. Noch zehn Minuten, dann dürfen Sie wieder schlafen.“ – „Das haben Sie eben auch schon gesagt“, beschwert sich der Patient in einem Anflug von Galgenhumor, rechnet aber brav weiter, erzählt von seinen Motorrädern und beschreibt, was er auf den gezeigten Bildern sieht.
Erfolgreicher Eingriff und erste Fortschritte
Gleichzeitig überprüft der Neurologe, ob mit dem linken Arm, der von der rechten Hirnhälfte gesteuert wird, alles in Ordnung ist. Als Harald Buchholz dort die Berührungen zeitverzögert spürt, ist kurzzeitig Alarm. Der Operateur lässt sofort die Instrumente ruhen, um dann einen anderen Weg durch die Hirnwindungen zu suchen. Schließlich ist das gesamte markierte Gewebe entfernt. Bei Harald Buchholz geht die Kraft zu Ende. „Ich kann nicht mehr“, flüstert er. Auf Prof. Müllers Zeichen injiziert der Anästhesist Narkosemittel. Der Patient darf endlich wieder schlafen.
Schon wenige Tage später sitzt Harald Buchholz im Bett und trainiert. Nur sehr verschwommen kann er sich an das unwirkliche Geschehen im OP erinnern, als ein Neurochirurg einen Tumor in seinem Gehirn entfernte, während er Rechenaufgaben löste und vom Urlaub erzählte.