Oberarzt holt verwundeten Soldaten aus der Ukraine nach Dortmund

Fast alle schlafen, als es geschieht. 500 Mann in einem Feld nahe der Stadt Luhansk. Es ist eine warme Sommernacht, 11. Juli 2014. Gegen 4.30 Uhr macht sich der ukrainische Unteroffizier Oleksander Krotyk auf zur Toilette. Als der 21-Jährige zurück kommt, ruft ein Kamerad: „Lauf!“. Doch Krotyk weiß nicht wohin. Er dreht sich um und sieht, wie eine Feuerwalze aus feindlichen Raketen am Horizont auf seine Einheit zurast. Die Wucht des Donners lässt ihn auf die Knie sinken. Er spürt, wie Granatsplitter in seinen Rücken schießen. Innerhalb von einer Minute detonieren 120 Raketen über dem Nachtlager. – Zeitsprung: Oleksaner Krotyk sitzt aktuell im Klinikzentrum Nord des Klinikums, sein rechter Unterschenkel ist amputiert. Ein Oberarzt der Urologie, der hier arbeitet, hat ihn nach Dortmund geholt. Er kennt den Soldaten nicht, aber er wollte etwas tun. Der Arzt heißt Dennis Prokofiev (34), er hat mit seiner Frau und einem Bekannten den Soldaten einfliegen lassen. Auf eigene Faust. Ohne Verein. Nahezu ohne Geld. – Hilfe, ganz konkret.

Denn als Dr. Prokofiev zusammen mit seinem Vater im Fernsehen die Bilder aus seiner Heimat Ukraine sieht, ärgerte er sich maßlos. Ein Sender zeigt Aufnahmen von verwundeten ukrainischen Soldaten, die angeblich „alle gut und kostenlos versorgt werden“, wie die Kommentatoren-Stimme sagt. Krieg ist Propaganda. Doch der Dortmunder Oberarzt kann nur den Kopf schütteln. Er kennt die derzeit chaotischen Verhältnisse in seiner Heimat und weiß um das Leid der Soldaten, die gegen die „pro-russischen Separatisten“ kämpfen. „Ich wollte helfen. Und ich weiß, dass das nur so geht. Hilfskonvois und Spenden geraten dort nicht selten in dubiose Hände. Da kommt wenig an, wo es wirklich gebraucht wird“, sagt Dr. Prokofiev. Der Mediziner fragt seinen Chef, den Direktor der Klinik für Urologie Prof. Dr. Michael Truß, der wiederum den Geschäftsführer des Klinikums Rudolf Mintrop fragt. Die Geschäftführung ist sofort und ganz spontan bereit das Projekt zu unterstützen.

Die Prothese spendet die Orthopädie-Technik-Firma Zieger

Prokofievs Mühen zeigen erste Erfolge: Ein Bett im Klinikum ist für die Zeit der Prothesenanpassung in Deutschland für den Soldaten sicher. Der ebenfalls angesprochene Direktor der Klinik für Unfallchirurgie, Dr. Jens-Peter Stahl, bietet im Bedarfsfall seine traumatologische Expertise und Mitbetreuung an. Die Orthopädie-Technik-Firma Zieger spendet die Prothese. Dr. Karl Zieger und Zdravko Cerkez haben sofort Ihre Hilfe angeboten und somit wesentlich zum Erfolgt der gesamten Aktion beigetragen.

Der Unteroffizier überlebte den Raketenangriff wie durch ein Wunder

Medizinisch versorgt wurde der Unteroffizier bereits in seiner Heimat. Dort hatte man seinen Unterschenkel aber leider nicht mehr retten können. Krotyk hatte sich freiwillig zur Front gemeldet, weil er verhindern wollte, dass die pro-russischen Kräfte und damit letztlich der Krieg noch tiefer in die Ukraine vordringen. In der Nacht, als er sein Bein verlor, waren die feindlichen Geschosse teilweise so programmiert, dass sie über den Köpfen der Soldaten detonierten. Krotyk überlebte wie durch ein Wunder. Zunächst verstand er nicht, warum er immer hinfiel, wenn er aufstehen und laufen wollte, bis er merkte, dass sein Unterschenkel weggeschossen war. Schmerzen verspürte er nicht, sein Körper stand unter Schock. Der 21-Jährige suchte seinen Unterschenkel, robbte dann mit seinem halben Bein in der Hand unter einen Panzer, als die nächste Feuerwalze über sie hinweg rollte. Eine Rakete setzte den Panzer in Brand. Auf Ellenbogen kroch Krotyk hervor, vorbei an den leblosen Körper seiner 129 Kameraden, die es nicht geschafft hatten.

Als der Soldat auf der Trage lag, gab es einen erneuten Bombenalarm

Nach der ersten schweren Angriffsserie legten die Überlebenden ihn auf eine Trage, nahmen ihn mit zu einem der wenigen Wagen, die noch fahrtüchtig waren, als wieder Bombenalarm ertönte. Seine Kameraden suchten Schutz und ließen ihn an dem Wagen auf der Trage zurück. Da lag er nun, nahezu bewegungsunfähig, und wartete auf die Raketen. Doch es war ein Fehlalarm. Später stellte sich heraus, dass der nächtliche Angriff der pro-russischen Separatisten so präzise auf seine Einheit möglich war, weil laut Krotyk ein Offizier aus den eigenen Reihen den Standort gegen Geld verraten hatte.

Es folgten acht Operationen in drei Wochen

Während der zweistündigen Fahrt ins nächste Feldlazarett war der Konvoi fortlaufend unter Beschuss. Erst auf der Liege im Lazarett und damit rund vier bis fünf Stunden nach dem ersten Angriff spürte Krotyk schließlich Schmerzen. Die Ärzte banden ihm notdürftig mit einem Gürtel das Bein ab. Von dort kam er dann letztlich über ein weiteres Lazarett in das 500 Kilometer westlich entfernte Winnyzja. Es folgten dort acht Operationen in drei Wochen.

"Da war mir klar: Wir müssen was tun"

Die Frau von Oberarzt Prokofiev, Alina Anbinder, war kürzlich in der Ukraine: „Das war in den Straßen dort, wie man es aus alten Nachkriegsfilmen kennt: Verwundete Männer kommen zurück von der Front und umarmen ihre Frauen. Da war mir klar: Wir müssen etwas tun“, sagt sie sichtlich gerührt. Gemeinsam mit einem Bekannten in der Ukraine organisieren sie die Ausreise des Soldaten Oleksaner Krotyk. Viele Anrufe mit dem Auswärtigen Amt sind nötig, ein Visum muss beantragt werden, viel Papierkram. „Ohne unseren Bekannten (Oleksandr Golodnizkij, Abgeordneter des Regionalrates Mykolaiv) in der Ukraine wäre das alles nicht machbar gewesen. Er hat letztlich auch das Flugticket übernommen“, sagt Dr. Prokofiev, der kein großes Aufhebens um sein humanitäres Engagement machen und deshalb auch keinen Verein oder ähnliches gründen will: „Das ist mir alles zu kompliziert.“

Er sagt, dass man sich nie selbst aufgeben dürfe

Seit dem 14. Oktober 2014 ist Oleksaner Krotyk nun in Deutschland. Inzwischen hatte er bereits mehrere Anproben mit der neuen Prothese und ist auch schon erste Schritte gelaufen. Andere Menschen in Dortmund, die ebenfalls aus der Ukraine stammen, haben über Facebook von dem Soldaten erfahren und unterstützen ihn. Einer geht mit ihm in den Park, ein anderer hat ihm sein Laptop geliehen, damit er per Skype nach Hause telefonieren kann. Knapp eine Woche wird Krotyk noch in Dortmund bleiben, dann geht es in die Heimat. Er will zurück nach Mykolaiv und Agrarwissenschaften studieren. Er sagt, dass man sich nie selbst aufgeben dürfe. Seine Schwester sagt über ihn, dass er schon immer ein Kämpfer war, selbst als kleiner Junge. Vielleicht erklärt sich auch so, dass er noch mal an die Front ziehen würde, wenn er jetzt gesund wäre. Denn im Gegensatz zum ersten Mal, sagt er, sei es nun einfacher. Er wisse ja jetzt, worauf er sich einlasse.

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